Dr. Thomas Macho (Univ.-Prof. i.R.)
Direktor des IFK
Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften |
Kunstuniversität Linz in Wien
Email: office@thomasmacho.de

 Sammeln in chronologischer Perspektive



Wenn Sie auf diesen Text verweisen möchten:
erschienen in: Horst Bredekamp/Jochen Brüning/Cornelia Weber (Hrsg.): Theater der Natur und Kunst - Theatrum naturae et artis. Wunderkammern des Wissens. Essays, Berlin (Henschel-Verlag) 2000, 63-74.

von Thomas Macho



1. Vorbemerkung: Sammeln und Ordnen

Sammeln läßt sich prinzipiell alles. Keine Objektklasse, gleichgültig ob sie Serien oder Unikate betrifft, ist von vornherein ausgenommen. Eine historische Liste möglicher Sammlungsobjekte bleibt unabschließbar. Daraus ergibt sich, daß Sammlungsgeschichte nicht von Sammlungsobjekten handeln kann, sondern lediglich von Sammlungskriterien und Ordnungssystemen. Selbst die vieldiskutierten Obsessionen und Leidenschaften des Sammlers gelten in erster Linie den vorausgesetzten Kriterien, die den Wert eines Sammlungsgegenstandes steigern oder vermindern. Freilich werden diese Kriterien, die ein Objekt als Element einer Sammlungsklasse definieren, nicht immer bewußt reflektiert; so konnten Genußerfahrungen und Geschmackserinnerungen die Nahrungssuche erleichtern, lange bevor die Polaritäten zwischen "roh" und "gekocht" oder "Honig" und "Asche" (im Sinne der "Mythologica" von Claude Lévi-Strauss 1 metaphorisiert wurden. Die Tätigkeit des Sammelns entspringt einer - mehr oder weniger bewußt getroffenen - Klassifikationsentscheidung. Die Vielfalt der Objekte tritt dem Sammler immer schon als Kosmos, als höhere Ordnung, vor seine Augen; das Chaos ist dagegen sammlungsfeindlich. Selbst die Objekte, die sich - scheinbar wahllos - in manchen Nischen oder Kellern einer zeitgenössischen Wohnung "ansammeln", verdanken ihre dauerhafte Präsenz einer strukturellen Entscheidung: sie nicht wegzuwerfen, sondern aufzuheben für einen vagen künftigen Gebrauch.

Wer obsessiv sammelt, artikuliert das Pathos seiner Tätigkeit gerne mit dem Verweis auf eine konkrete, sinnlich vermittelte Realität, welche ihm in Gestalt seiner Sammlungsobjekte begegne. Dabei erreicht er niemals die Welt, sondern stets nur seine eigene, spezifische Konstruktion einer Welt, die zumindest aus der Differenz zwischen sammlungsrelevanten und -irrelevanten Elementen aufgebaut ist. Wer sich fasziniert zeigt von einem Objekt, trifft buchstäblich auf seine eigene magische Kosmologie: "fascinare" heißt im Lateinischen "beschreien" oder "behexen". Der Sammler erfährt sich als "verzaubert" von seinen Gegenständen, die ihm - ohne Reflexionszwänge - jenen "Zauber" spiegeln, den er ihnen zuvor verliehen hat. Erst der Logos (eines Ordnungssystems) konstituiert den Mythos (eines faszinierenden Objekts); nicht umsonst benutzten Künstler und Gelehrte der Renaissance die neue Logik der ars combinatoria, um - nach Aby Warburgs treffendem Ausdruck 2 - einen "Denkraum" zu eröffnen, in dem die alten, dämonischen Objekte der Antike - beispielsweise die Planeten- und Sternbilder - in neuem Glanz erscheinen konnten. So paradox es klingen mag: die Faszination folgt der Konstruktion - und das Sammeln dem Klassifizieren. Sammlungsgeschichte muß darum - auch im Sinne der neueren Forschung 3 - als Wissensgeschichte studiert werden; wie die Ausstellung "Theatrum naturae et artis" sinnfällig demonstriert, verlieren dabei traditionelle Leitdifferenzen - beispielsweise jene zwischen "Kunst" und "Natur" oder zwischen "Kultur" und "Technik" - ihre ehemals strategischen Bedeutungen.

Während eine Aufzählung möglicher Sammlungsobjekte prinzipiell unmöglich erscheint, ja, selbst ein Katalog historischer Sammlungen - von Aldrovandi bis Guggenheim - die Grenzen jeder Darstellung sprengen würde, sind es doch nur überschaubar wenige Sammlungsideale (und Wissensordnungen), die geschichtlich wirksam geworden sind. Für die Zwecke einer umrißhaften Skizze läßt sich unterscheiden zwischen sakral-magischen Sammlungsidealen und den Sammlungsidealen der frühneuzeitlichen Wunderkammern, zwischen enzyklopädischen und chronologischen Sammlungsidealen. Diese Ideale lassen sich zwar in einer historischen Reihe anordnen, doch haben sie einander nicht - nach der Logik wissenschaftlicher Paradigmenwechsel - einfach abgelöst; sie manifestieren sich bis heute in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen. So können nach wie vor einzelne "Wunderkammern" - beispielsweise das "Museum of Jurassic Technology" in Culver City, California 4 - besucht werden; und längst nicht alle religiösen oder fürstlichen Schatzkammern wurden in öffentlich zugängliche Museen verwandelt. Enzyklopädische Ideale reüssieren neuerdings im Internet; kaum eine Ausstellung der letzten Jahre verzichtete auf ihre besondere "Timeline". Nach wie vor werden begrenzte Serien gesammelt, aber auch Raritäten und Unikate; während der eine Sammler seine Individualität in der begehrten Ausnahme wiederzuerkennen glaubt, strebt der andere nach dem Glück der Vervollständigung. Alle zeitgenössischen Sammler bewegen sich indes in einem Raum globaler Musealisierung, von dem Boris Groys sagte, er sei "das größte und, wenn man will, das einzige Kunstwerk der Moderne". 5

2. Skizze zu einer Geschichte der Sammlungsideale

Die Menschen der Vorgeschichte haben - im strengen Sinne - nicht gesammelt, obwohl sie gerne als "Jäger und Sammler" tituliert werden. "Gesammelt" wurde nämlich für den aktuellen Verbrauch; die "Objekte" der Sammeltätigkeit - Wurzeln, Beeren, Früchte - sollten nur in seltenen Fällen "konserviert" und für eine fernere Zukunft aufgehoben werden. Zum Wesen der Sammlung hingegen gehört bekanntlich - nach Krzysztof Pomians Definition - der Versuch, die gesammelten Gegenstände "zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten" 6 herauszuhalten. Eine solche temporäre oder permanente "Exklusion" des Gesammelten konnte organisatorisch erst nach der sogenannten "neolithischen Revolution", dem Beginn des Zeitalters der "Seßhaftigkeit", durchgesetzt werden: mit dem Bau von Vorratsspeichern oder Kornkammern, die nach Maßgabe der Funktionsordnung alter Städte meist in der Nähe der Tempel- oder Palastanlagen errichtet wurden. Die Technik der Vorratshaltung implizierte nämlich bereits ein spezifisches Wissen, das in den frühen Hochkulturen häufig von der Priesterschaft verwaltet wurde: Kenntnisse der Astronomie und Zeitmessung, Kenntnisse der Mathematik (zur Volumen- und Bestandsberechnung, aber auch zur Differenzierung zwischen dem Bedarf an Saatgut und Nahrung), Kenntnisse der Genealogie und Verwandtschaftssysteme (beispielsweise zur Definition von Besitz oder Erbschaft, sowie nicht zuletzt zur Entwicklung von Verteilungsregeln). Die Komplexität dieses Wissens sollte nicht unterschätzt werden. Nicht umsonst avancierte der divinatorisch begabte Joseph zum Ratgeber des Pharaos: mit seinem visionären Planungshorizont von vierzehn - sieben fetten, sieben mageren - Jahren überbot er mühelos die sozial bedeutungslose 1460jährige "Sothisperiode" der ägyptischen Kalenderwissenschaft.

Die Abhängigkeit von unkalkulierbaren Rahmenbedingungen der Sammlung - Wetter, Kriege, Nagetiere, Seuchen - ließ sich jedoch durch Wissen allein nicht reduzieren. Sie erzwang kompensatorische Strategien - des Opfers, der Magie, des Orakels, der Kommunikation mit den Geistern verstorbener Ahnen - und damit einen zweiten Typ der Sammlung: "transitional objects", die - im Unterschied zu Winnicotts analytischem Begriff 7 - buchstäblich die "vertikale Passage" zwischen Erde, Himmel und Unterwelt erleichtern sollten. Zunächst waren es wohl die Knochen, die als sakral-magische Objekte par excellence reüssierten. Seit den DNA-Untersuchungen der Skelette, die unter den Bett- und Herdstellen der anatolischen Stadt Çatal Hüyük (aus dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend) gefunden wurden, wissen wir definitiv, daß diese Knochen eine Art von "privater Sammlung" der jeweiligen Ahnen und Vorfahren repräsentierten. Aufwendiger wurde mit den Herrschern und Königen verfahren; Grabstellen verwandelten sich in Schatzkammern. Erst unter Voraussetzung jener genealogischen Zugehörigkeitsordnungen, die nicht nur höhere Aufmerksamkeit für die eigenen Verwandtschaftsbeziehungen, sondern darüber hinaus für die gründungsrelevanten Toten der gesamten Siedlungen erzwang, wurden luxuriöse Grabstätten bedeutsam: als Bürgen der eigenen Identität, als Zeichen für einen konstitutiv abwesenden Ahn. In der Natoufien-Siedlung 'Aïn Mallaha in Palästina, zwanzig Kilometer nördlich vom See Genezareth, wurde eine Grabhütte gefunden, in der ein mutmaßlicher König in sitzende Stellung gebracht, geschmückt und mit Steinen so fixiert worden war, daß er seinen Blick auf die schneebedeckten Hänge des fünfzig Kilometer entfernten Berges Hermon richten konnte. Das Grabhaus wurde ummauert und mit großen, flachen Steinen zugepflastert; auf dem Flachdach wurde eine Feuerstelle errichtet. 8

Während vieler Jahrtausende fungierten die Grabstätten der Herrscher als Sammlungen sakraler Objekte und Schätze: von 'Aïn Mallaha bis zu den ägyptischen Pyramiden, von den mykenischen Königsgräbern bis zu den Reliquiaren des Mittelalters. Zunehmend wurden freilich die "transitional objects" - zu denen neben den Knochen auch edle oder auffällige Steine, wertvolle Metalle und künstlerische Werkstücke zählen mochten - "horizontalisiert": sie dienten nicht mehr vorrangig dem Verkehr zwischen den Welten der Lebenden, der Götter und der Toten, sondern vielmehr dem Handel, dem Austausch zwischen verschiedenen Städten, Kulturen und Erdteilen. So wie die Monstren ihren ursprünglichen Status als Verkörperungen des Ursprungs (in zahlreichen Theo- und Kosmogonien) oder des Untergangs (in apokalyptischen Visionen) langsam einbüßten - spätestens seit Plinius des Älteren "Naturalis Historia" zugunsten ihrer Ansiedlung an den "Rändern" der bekannten Welt -, verloren auch die "transitional objects" ihren magisch-sakralen Charakter und transformierten sich zu Zeugnissen räumlicher Entfernung, exotischer Fremdheit und einer - womöglich innovativen - Kunstfertigkeit. So erinnerte Cicero an die Gefühle der religio und der pietas, welche die Griechen gegenüber ihren Götterstatuen empfunden hätten, bevor obsessive Sammler und skrupellose Feldherren (wie der Prätor Gajus Verres) die "Heiligtümer" als wertvolle Kunstschätze raubten und in ihre Privatvillen nach Rom "exportierten". Vgl. Marcus Tullius Cicero: Reden gegen Verres V. Zweite Rede. Viertes Buch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhard Krüger. Stuttgart: Reclam 1993. Seite 81 ff. Was für die Griechen noch ein Kultobjekt bildete, galt den Römern schon als prestigeträchtiger Sammlungsgegenstand, der geraubt, gekauft oder sogar ersteigert werden konnte; Plinius der Jüngere schreibt an seinen Freund Rufinus: "Nun kennst Du alle Gespräche in der Stadt; denn alle Gespräche betreffen Tullus: Man wartet nur auf die Versteigerung. Er war nämlich so reich, daß er einen wirklich ausgedehnten Park an demselben Tag, an dem er ihn gekauft hatte, mit sehr vielen antiken Statuen ausstatten konnte. So viele herrliche Kunstwerke hatte er in seinen Speichern, die er gar nicht beachtete." 9

Wie sich dem Briefzitat entnehmen läßt, war das Sammlungsideal der Seltenheit noch keine Leitvorstellung der römischen Antike. Die Nachfrage nach Plastiken war beispielsweise - wie Jacob Burckhardt bemerkt - zeitweise so groß, daß kopflose Statuen seriell vorgefertigt wurden, die nach erfolgter Bestellung ihr gewünschtes Haupt erhielten. 10 Erst in den Kuriositätenkabinetten, Kunst- und Wunderkammern der Renaissance und des Barock gewann die "Rarität", das Unikat, das seltene oder einmalige Exemplar ein tragendes Gewicht: freilich im Kontext von Wissens- und Ordnungssystemen, die aus der Verschmelzung griechischer, arabischer, hebräischer und lateinischer Traditionen während der Zeit der spanischen convivencia hervorgegangen waren. Das hoch- und spätmittelalterliche Spanien hat der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zahlreiche Impulse vermittelt: die Übersetzungen der aristotelischen Philosophie, die indisch-arabische Zahlenschrift, sowie eine Vielzahl wissenschaftlich-technischer Neuerungen in den Bereichen der Optik, Astronomie oder Medizin. Als wesentliche Protagonisten dieses erfolgreichen Wissenstransfers können Gelehrte aus allen drei Hochreligionen genannt werden, die sich nicht zufällig auch Verdienste um den Dialog zwischen den Religionen erwarben; erwähnt seien die Ärzte Ibn Ruschd, genannt Averroës (1126-1198) und Moses Maimonides (1135-1204), sowie der "Doctor illuminatus" und Erfinder der "Ars generalis", Raimundus Lullus (1232-1316). Unter den Bedingungen intellektuellen und religiösen Austauschs erscheint es nicht verwunderlich, daß die spanischen Wissenschaftler ihre theologischen Konzeptionen rationalisierten und in neuartige Ordnungssysteme integrierten. So gelang es Maimonides, den Talmud zu systematisieren und mit dem arabischen Aristotelismus zu verbinden; Raimundus Lullus entwickelte tabellarische Systeme, mit deren Hilfe die Grundkategorien der drei Buchreligionen und der griechischen Philosophie ineinander "übersetzt" werden sollten. Die spanischen Ordnungssysteme wurden häufig als Tableaus oder Bäume visualisiert, und gelegentlich - wie im Falle der "Lullischen Scheiben" - auch als Instrumente konstruiert.

Die komplexen Modelle des Lullismus oder der (neoplatonischen) Kabbalistik, deren Wirkungsgeschichte bis ins 17. oder sogar 18. Jahrhundert nachgewiesen werden kann, relativieren den suggestiven Entwurf jener "Episteme der Ähnlichkeit", die Michel Foucault der Renaissance zugeschrieben hat; 11 sie bezeugen ein Organisationsprinzip zumal der Kuriositätenkabinette und Wunderkammern, das vielleicht mehr vom experimentellen Umgang mit unterschiedlichen Darstellungstechniken (Bildern, Schriften, Zahlen, architektonischen und musikalischen Proportionen), mit zahlreichen Codes (Alphabeten, Hieroglyphen, Astralsymbolen, Zahlen- und Notenschriften) und Permutationsmöglichkeiten profitierte, als von einer hypothetischen "Sprache der Dinge". Erst die ars combinatoria ermöglichte ein Sammeln, das die Grenzen zwischen Natur und Kunst, zwischen Instrumenten und Büchern, zwischen technischen und ästhetischen "Wunderwerken" konsequent überschreiten konnte. In den Wunderkammern fanden sich - etwa nach dem Zeugnis der "Museographia" Casper Friedrich Neickels aus dem Jahr 1727 - Naturalia (Tiere, Pflanzen, Mineralien), Mirabilia und Artificialia: "als da sind allerley aus Gyps oder dergleichen irdischen Materien verfertigte Kunstsachen; aus Metallen, als da sind geometrische, physicalische, mathematische u.d.g. Instrumente; aus Glas, als Telescopia und Microscopia, allerhand optische Sachen, Thermometer etc.; aus Holtz, als Globi, musikalische hölzerne Instrumente und kurtz zu sagen alles dasjenige, was die Kunst in allerley Species, Helffenbein, Perlen-Mutter, Glas, Porzellain u.d.g. Materien nur immer der curiosen Welt verfertigen mag. Wobey auch dieses in Acht zu nehmen, daß, je schwerer eine Materie an und für sich zu bearbeiten, um destomehr die Rarität und Kunst dabey zu admirieren sey." Dazu kamen Gemälde, Skulpturen und Antiquitäten "als allerley Arten von Urnen oder Asch-Töpffen der verbrannten Heiden, Phiolas lacrimales oder Thränenkrüge, Idoles oder heidnische Abgötter, Lampades sepulchrales oder Begräbniß-Lampen, Dolche, Ringe, Schlösser, Haar-Nadeln etc. und überhaupt alles dasjenige, was unsre uralten Vorfahren zu ihrem Gebrauch gehabt, und davon noch bis dato vieles aus der Erde hervorgegraben wird." 12

Naturgemäß kann die vielfältige und facettenreiche Geschichte der Kunst- und Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts hier nicht dargestellt werden. 13 Unter dem Gesichtspunkt einer Skizze historischer Sammlungsideale sollten aber wenigstens zwei Entwicklungen markiert werden: einerseits die zunehmende Selbstreferentialität der Sammlungen, die gleichsam ihre eigene Wissensgeschichte in Gestalt zahlreicher Scientifica (beispielsweise der wissenschaftlichen Instrumente, aber auch der Handschriften und Bücher) zu integrieren begannen, andererseits die wachsende Bemühung um übergreifende Ordnungssysteme, die nur darum zunächst nicht in Konkurrenz zum Interesse an Kuriositäten und Raritäten trat, als sie gerade die "Ausnahmen von der Regel" - im Sinne des Ideals der "great chain of being" 14 - auf einen Kosmos diffiziler Zusammenhänge, "Lücken" und Übergänge bezog. Beide Entwicklungen wurden begünstigt durch Ökonomien und Techniken des Sammelns, die immer weniger auf einzelne Objekte als vielmehr auf Sammlungen selbst gerichtet waren. Was Foucault als das Zeitalter der Repräsentation qualifizierte, zeichnete sich nicht zuletzt durch Verschiebungen der Aufmerksamkeit aus: immer häufiger wurden Objektklassen gesammelt und katalogisiert, als sollten Kategorien der jeweiligen Listen und Inventare "aufgefüllt" werden; die "reine Repräsentation", von der Foucault zum Ende seiner vielzitierten Analyse von "Las Meniñas" spricht, galt nicht mehr den Subjekten oder Gegenständen, sondern vielmehr der Repräsentationsleistung selbst. 15 Im Unterschied zum Seltenen und Einmaligen, das in den frühen Kunst- und Wunderkammern dominierte, trat nun das Sammlungsideal enzyklopädischer Vollständigkeit in den Vordergrund. Persönlichkeiten wie Kaiser Rudolf II., dessen Prager Sammlungen noch jahrhundertelang - bis zu Joseph II. - die Kassen der Habsburger füllten, trugen zur Ausprägung dieser neueren Erscheinungsform des Sammelns ebenso bei wie - ab dem 17. Jahrhundert - die Institutionalisierung der Sammeltätigkeit in Studienbibliotheken und Museen, Universitäten oder Akademien der Wissenschaft.

Die Paradoxien enzyklopädischer Sammlungsmotive wurden häufig thematisiert: als Herstellung einer Karte im Maßstab 1:1 (Jorge Luis Borges 16, als die vollständige "Enzyklopädie der Toten" 17 Was solche (und ähnlich paradoxe) Geschichten bzw. Zitate karikieren, ist die Vorstellung einer vollständigen Repräsentierbarkeit der Dinge - zumindest der Exemplare einer bestimmten Klasse von Dingen. Tatsächlich aber referiert das enzyklopädische Sammlungsideal weniger auf Dinge als auf Wissens- und Ordnungssysteme. Überspitzt formuliert: gesammelt wurden Sammlungen - und also Sammlungskategorien. Insofern ist der ramistische Begriffsbaum, den Diderot der Encyclopédie (die dann ein alphabetisches Ordnungsmodell verwendete) voranstellte, aufschlußreicher, als mancher Einzelartikel; insofern sind Inventare, Kataloge, Listen und Bestandsverzeichnisse wichtiger, als die einzelnen Gegenstände, weil sie Paradigmenwechsel der Klassifikation annoncieren können, die auch jenseits der sinnlichen Wirklichkeit jeweiliger Objekte historisch relevant bleiben. Verzeichnisse und Inventare wurden logisch konzipiert, ohne unbedingt ausgeführt werden zu müssen: etwa der Entwurf des Wiener Galeriedirektors Joseph Rosa aus dem Jahr 1772 zur Katalogisierung der kaiserlich-königlichen Gemäldebestände. In gewisser Hinsicht hat diese charakteristische Qualität des enzyklopädischen Sammlungsideals auch im Zeitalter elektronischer Medien überlebt: wie viele Datenbanken wurden bereits programmiert und demonstriert, ohne jemals den gesamten Umfang der Daten selbst aufnehmen zu müssen! Entscheidend blieb bis heute die Vision der Vollständigkeit und der technischen Operabilität von Klassifikationskategorien, nicht von einzelnen Objekten oder spezifischen Datensätzen. Zum Trost: schon die taxonomischen Systeme der Biologen - ganz zu schweigen von Linnés Versuch, die Vorsehung und das Schicksal selbst in ein Klassifikationsschema zu zwängen 18 - provozierten stets den Vorwurf, die wirklichen Gestalten der Pflanzen oder Tiere zugunsten der Typologie zu vernachlässigen. 19

Die bisher erwähnten Sammlungsideale - die Leitvorstellungen magischer Grenzüberschreitung, exotischer Seltenheit oder enzyklopädischer Fülle und Vollständigkeit - wurden etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts temporalisiert. Chronologische Ordnungssysteme transformierten die "chain of being" in eine zeitliche Abfolge, die einerseits von den aufklärerischen Geschichtsphilosophen, andererseits von den naturwissenschaftlichen Evolutionstheorien geprägt wurde. Inzwischen sind wir so gewöhnt an chronologische Ordnungsschemata, daß explizit betont werden muß, wie neuartig und modern diese Klassifikationsmodelle eigentlich sind; die zeitliche Gliederung von Sammlungsbeständen wurde im wesentlichen erst während des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnte die Vermutung mancher Paläontologen, "daß Fossilien Überreste von heute ausgestorbenen Organismen seien" mit dem kryptotheologischen Argument zurückgewiesen werden, "daß in einem gut regierten Universum jede Art zu allen Zeiten vorhanden sein müsse"; der "Fortgang der Zeit" sollte "keinen Zuwachs an Mannigfaltigkeit in der Welt" bedeuten: "in einer Welt, welche Ausdruck einer ewigen Vernunft ist, durfte dies auch gar nicht sein." 20 Für die späte Etablierung der Timeline als Sammlungsideal und Organisationsprinzip von Sammlungen lassen sich allerdings nicht allein theologisch-philosophische Resistenzen verantwortlich machen; vielmehr war es auch und gerade die komplexe, widersprüchliche Geschichte der Zeitrechnung und Zeitmessung selbst, die der Konzeption von neuen Evolutions- und Fortschrittsmodellen, dem Sammeln in chronologischer Perspektive, einen gewissen Widerstand entgegensetzte.

3. Kurzer Exkurs zur Geschichte der Chronologie

Jede Zeitrechnung basiert auf regelmäßigen Beobachtungen und Aufzeichnungen. Was aber beobachtet und aufgezeichnet wird, ist nicht der Fluß einer homogenen, unstrukturierten Dauer, sondern deren Unterbrechungen, Rhythmen, Zyklen, Wiederholungen. Denn was homogen und unterschiedslos vorüberstreift - wie ein Rauschen der Augenblicke - erzeugt keinerlei Information und widersetzt sich somit von vornherein der Idee, erkannt und festgehalten zu werden. Obwohl jedes chronologische System die Vorstellung evoziert und nährt, die Zeit gehe unwiderruflich vorüber - nie mehr wieder werden wir einen bestimmten Kalendertag, beispielsweise Samstag, den 9. Dezember 2000, erleben -, ist es doch konstruiert aus lauter Elementen, die auf spezifische Perioden, also auf zeitliche Wiederholungen, verweisen. Ein Tag referiert auf den Rhythmus der Erdumdrehung (und den damit zusammenhängenden Wechsel von Tag und Nacht), eine Woche oder ein Monat referiert auf den Umlauf des Mondes (und den damit zusammenhängenden Wechsel von Vollmond und Neumond), ein Jahr referiert auf den Umlauf der Sonne (und den damit zusammenhängenden Wechsel der Jahreszeiten). Die meisten Uhren und Kalender erinnern an diese Periodisierungen: selbst die Zahlen auf einer digitalen Anzeigetafel wiederholen sich (dem äußeren Anschein nach) kaum weniger häufig als die Zeiger einer Uhr, die immer wieder denselben Ziffernkreis durchwandern.

Zeitrechnungen sind Ordnungssysteme, die sich der beliebten, spätestens seit Mircea Eliades "Le mythe de l'éternel retour" von 1949 21 auch in der Religions- und Kulturanthropologie verbreiteten Alternative zwischen linearer und zyklischer Chronologie nicht fügen: ihre kulturelle Leistung besteht vielmehr gerade darin, diese scheinbar gegensätzlichen Zeitgestalten zu vermitteln und ineinander zu integrieren. So exponieren sie eine Logik der Ereignisse (wie sie beispielsweise durch jede Genealogie oder Datierung definiert wird) in einem Horizont von Zyklen (wie sie beispielsweise durch Feiertage oder Jubiläen gebildet werden). Sie etablieren chronologische Sequenzen durch deren kairologische Strukturierung: sie machen Zeit meßbar, indem sie deren Kontinuum mit Hilfe von Wendepunkten (etwa der Äquinoktien und Solstitien, oder des Siriusaufgangs im ägyptischen Kalender) konstruieren. Diese Konstruktionen sind alles andere als trivial: sie setzen eine Korrelation von Berechnungen und astronomischen Beobachtungen voraus, die gar nicht leicht abgeleitet werden kann, denn die Bahnen der Gestirne haben den mathematischen Erwartungen der alten Astronomen (nicht nur aus der Schule des Pythagoras) stets einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem sie sich jeder einfachen (sprich: ganzzahligen) Proportionsbildung entzogen. Heute wissen wir, daß ein exakter Mondumlauf 29 Tage (zu 24 Stunden), 12 Stunden, 44 Minuten und 2,9 Sekunden benötigt: also einen Zeitraum von 29,530589 Tagen. Ein Sonnenumlauf braucht dagegen 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten und 45,97546 Sekunden: also eine Zeitspanne von insgesamt 365,24219879 Tagen. Dabei lassen sich nicht einmal diese Maße für alle Ewigkeiten fixieren; ein wirklicher Tag hat genaugenommen nicht immer 24 Stunden gedauert. Die Erde dreht sich nämlich immer langsamer, so daß die Tage sukzessiv länger werden; ein Tag vor rund 400 Millionen Jahren dauerte nur 21 Stunden, so daß fiktive intelligente Beobachter in dieser Zeit 402 Sonnenaufgänge pro Jahr hätten erleben können. 22

Chronologische Systeme können geradezu als "Motoren" mathematischer und wissenschaftlicher Fortschritte betrachtet werden: sie ordneten und kartierten die mutmaßlich komplexeste "Sammlung", welche die Menschheit jemals vorgefunden hat - nämlich den Sternenhimmel. Dabei mußten sie Perioden berechnen, die vor Erfindung der reellen Zahlen nur schwer korreliert werden konnten. Dennoch verwendeten etwa die Mayas bereits ziemlich präzise Modelle: sie berechneten 149 Mondumläufe mit 4400 Tagen, was von der genauen Zahl nur um 0,057961 Tage abweicht. Anders gesagt: sie operierten de facto mit einem Mondumlauf von 29,530200 Tagen an Stelle der korrekten 29,530589 Tage. Ähnlich exakte Werte wurden in Griechenland um 430 v.Chr. erzielt, und zwar von den Astronomen Meton und Euktemon: sie setzten - vermutlich nach altbabylonischer Tradition - 235 Mondmonate mit 19 Sonnenjahren in Beziehung und ermöglichten damit eine Berechnung der Jahreslänge, die nur um 2 Stunden und 5 Minuten fehlging. Diese nahezu exakte Beziehung zwischen den 19 Jahren und 235 Monaten wird übrigens bis heute "Metonischer Zyklus" genannt; wir würden die ihr zugrundeliegende Rechnung auf folgende Weise anschreiben: 19 Sonnenjahre = 19 x 365,24219879 : 29,530589 = 234,997066161125333463548593629473 Mondmonate. Freilich konnte die griechische Mathematik solche Dezimalbruchrechnungen nicht durchführen. Sie suchte darum nach Perioden, die sich in nahezu ganzzahlige Verhältnisse zu anderen Perioden setzen ließen: besonders beliebt war das sogenannte "Venusjahr", das mit seiner Dauer von durchschnittlich 584 Tagen (die sich zusammensetzen aus etwa 263 Diensttagen als "Morgenstern", 8 Urlaubstagen, 263 Diensttagen als "Abendstern" und schließlich einer längeren Ferienpause von etwa 50 Tagen) ein Proportionsverhältnis zum Sonnenjahr (365 Tage) von 8 zu 5 einnimmt. "Die Venus", so poetisch formulierte es der Astronom Anthony Aveni in seinem "Dialog mit den Sternen", "tanzt genau im Fünf-Achtel-Takt zum Rhythmus des Sonnenjahrs". 23

Mindestens ebenso wichtig wie die Protokolle der Himmelsbewegungen (sei es durch paläolithische Knochenkerben 24 oder die Schattenrisse des griechischen Gnomons war indes die Übersetzung astronomischer Daten in die alltäglichen Lebenswelten der Herrscher, Handwerker, Kaufleute, Krieger, Fischer oder Bauern. Die wissenschaftlich-technische Leistung der frühen Zeitrechnungen muß nicht allein darum so hoch bewertet werden, weil sie eine Koordination "natürlicher" und "kultureller" Systeme (nämlich der Himmelsbewegungen und der Zählungsprotokolle oder Meßtechniken) bewirkte, sondern auch weil sie astronomische Beobachtungen in kulturelle Symbole, Erinnerungen, Mythen und Erzählungen zu transponieren verstand. 25 Selbst die ältesten Kalender synchronisierten nicht nur Ereignisse (wie z.B. Sonnenwenden) und Zyklen (wie z.B. den Mondumlauf), sondern vielmehr kosmische und kulturelle Prozesse. An kaum einem Beispiel läßt sich diese Leistung klarer veranschaulichen als an jener Imagerie des Himmels, die bis zum heutigen Tag unser Alltagsbewußtsein prägt: an den Sternbildern, Planetendarstellungen und Tierkreiszeichen. Die meisten Hochkulturen, die wir kennen, haben eine differenzierte astrale Mythologie entwickelt: sie identifizierten Sonne, Mond und die Planeten mit Gottheiten. Bis heute hat sich der römische Götterhimmel in den Planetennamen (und darüber hinaus auch in den Wochentagsnamen) gleichsam astronomisch verewigt. Auch die wesentlich später - nämlich erst 1846 sowie 1930 - entdeckten Planeten Neptun (Poseidon) und Pluto (Pluton) wurden nach römischen Göttern benannt; die einzige Ausnahme bildet der Uranus, der 1781 von Sir William Herschel entdeckt wurde und - als siebenter Planet - den griechischen Namen für den Himmel selbst erhielt. Astrale Mythen projizierten das konkrete (politische, ökonomische, technische) Handeln auf vergleichbare Aktionsräume in den uranischen Sphären (und umgekehrt). Zwar erzeugt die polymorphe Phantasie der Namen, Zahlenverhältnisse und Narrationen, mit denen in den verschiedensten Kulturen die Himmelsordnungen beschrieben wurden, rasch Verwirrungen, die natürlich auch auf unterschiedliche Beobachterpositionen zurückgeführt werden können; doch kann der beeindruckende Reichtum an Erzählungen und Bildern kaum verbergen, was geradezu als ein universelles Prinzip der Chronologie angesehen werden kann - nämlich die Entwicklung von Bezugssystemen zwischen kosmischen und historischen Prozessen und Ereignissen. Nicht umsonst können wir nach wie vor jedes beliebige Datum gleichsam auf mehreren Ebenen indizieren: als Mondstand, als astrologische Konstellation, aber auch als kultisches, memoriales oder geschichtliches Zeichen.

Während die chronologischen Ordnungssysteme in kaum überschaubarer Vielfalt kulturelle und natürliche Zyklen und Ereignisse verschränken - von einer bildhaft-szenischen, mythologisch-narrativen Auslegung der Himmelskonstellationen und ihrer Veränderungen bis zur historischen, genealogischen oder astronomischen Determinierung einzelner Perioden und Daten -, verschränken sie auch die unterschiedlichen Codes kultureller Repräsentation. Kalender übersetzen Zählungen in geometrische Ordnungen, sie übertragen gemessene Proportionen in musikalisch-harmonische Strukturen (wie sie noch Johannes Kepler suchte, als er die fünf regelmäßigen Polyeder mit den Planetenbahnen in Übereinstimmung bringen wollte); sie transponieren imaginäre Punkte, Linien und Figurationen in einprägsame Bilder und Szenen, die Bilderfolgen wiederum in Erzählungen und religiöse Kulte, die Epen und heiligen Texte in zahlenmystisch relevante Systeme. Auf diese Weise generieren sie einen dicht gewebten Sinnzusammenhang, besser gesagt: einen Bedeutungstransfer zwischen Bildern, Schriften, Zahlen und Intervallen. Was in all diesen differenten Codes ausgedrückt wird, ist ein komplexes Projekt: die Idee nämlich der Einheit von Prozeß und Ereignis, Periode und Datum, chronologischem Zyklus und epiphanischem Zeitpunkt (Kairos). Die Komplexität dieses Projekts läßt sich noch an der christlichen Zeitrechnung veranschaulichen, deren weltweite Durchsetzung gerade erst zu Ende gekommen ist. Noch im 13. Jahrhundert wurde gleichzeitig nach verschiedenen Regionalkalendern gezählt: beispielsweise nach den jeweiligen Regierungsjahren (etwa bei den Langobarden und Franken) oder nach den Pontifikatsjahren der Päpste (seit 781). Auch die fünfzehnjährigen Indiktionen (Steuerzyklen) behaupteten sich noch lange nach dem Untergang des Imperium Romanum; und für die Tageszählung galt ohnehin nach wie vor der römische Kalender. 26

4. Zur Durchsetzung chronologischer Sammlungsideale in der Moderne

Die nachhaltige Stabilität der römischen Zeitrechnung wurde durch zwei wesentliche Faktoren unterstützt: einerseits durch die römische Zahlennotation, die erst in der Handelswelt der Renaissance von den indoarabischen Ziffern abgelöst wurde, andererseits durch die rechnerischen Schwierigkeiten, einen Kalender um ein Achsenereignis (nämlich die Inkarnation Christi) so zu drehen, daß eine Zählung vor und nach diesem Ereignis möglich wurde. Zwar versuchte schon Beda Venerabilis in seiner "Kirchengeschichte des englischen Volkes" von 731/732 an manchen Stellen rückwärts zu zählen, etwa wenn er feststellt, Cäsar sei "ante vero incarnationis Dominicae tempus anno sexagesimo", 27 also im Jahre 60 vor Christus, nach England gekommen; aber er gebrauchte diese Zählung nur für kleinere Zeiträume - und ohne die alternative Jahresrechnung ab urbe condita gänzlich auszuschließen. Nach Beda tauchten erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts rückwärtsgewandte Datierungen auf, z. B. in den "Flores Temporum" von 1292. Während die meisten Chronisten "im Bereich nachchristlicher Zeit blieben, griff der anonyme schwäbische Autor der Flores Temporum »mit Angst und Bangen und unter Zweifeln«, wie er schrieb, auf die vorchristliche Zeit zurück. Und dabei verwendete er - erstmals seit Beda nach unserem Kenntnisstand - die retrospektive Zeitrechnung, die Zählung der Jahre vor Christus - durchaus in systematischer Absicht und mit dem Bewußtsein, eine media via zwischen biblizistischer Unsicherheit und annalistischer Kurzatmigkeit gefunden zu haben." 28

Die retrospektive Zeitrechnung wurde erst nach der Erfindung des Buchdrucks wirklich populär. Sie verdankte ihre Durchsetzung der indoarabischen Zahlenschrift, die den Zauber der Null und der "negativen Zahlen" zu bannen und zu funktionalisieren verstand. Angst und Zweifel des Verfassers der "Flores Temporum" korrespondierten ja auch der Unheimlichkeit, die eine Zahl wie die Null in einem qualitativen Zahlensystem auszulösen vermag. Sie erscheint dort buchstäblich wie das "signifizierte Nichts" 29 , ein Zeichen, dessen Verwendung gelegentlich sogar verboten werden mußte: wie beispielsweise 1299 in Florenz, wo just für den Handel wieder die römische Zahlenschrift verordnet wurde, angeblich auch, um den möglichen Fälschungen im indoarabischen Stellenwertsystem vorzubeugen. Erst der Buchdruck reduzierte die Aussichten auf solche Fälschungen, weshalb es eben kein Zufall ist, daß erst im 15. und 16. Jahrhundert jene Ziffer rehabilitiert wurde, die zuvor als umbre et encombre, als "dunkel und unklar" erschienen war - und deren Name darauf verwiesen hatte, daß sie nulla figura, also kein geometrisierbares Zeichen, sei. Die negativen Zahlen absolvierten eine ähnliche Entwicklung: auch sie wurden "anscheinend erst im 16. Jahrhundert allgemein als Zahlen erkannt." Seit der Algebra des Mathematikers Diophantus von Alexandria (aus dem dritten nachchristlichen Jahrhundert) galten Gleichungen mit negativer Lösung als "absurd". Erst im Europa des 13. Jahrhunderts waren "Mathematiker wie Leonardo Fibonacci bereit, die Vorteile negativer Größen zu erkennen, wenn bei finanziellen Problemen Verluste angegeben werden müssen. Aber auch dann betrachtete man formale Aufgaben wie drei minus sieben noch nicht als sinnvoll. Im 16. Jahrhundert scheinen negative Zahlen allgemein anerkannt zu sein; man nennt sie im Gegensatz zu den "wahren" positiven Zahlen "falsche" Zahlen." 30 Die Vorteile der "falschen Zahlen" - die Möglichkeiten nämlich, eine Chronologie zu entwickeln, die an keine Ursprungsereignisse (wie die Schöpfung, die Sintflut oder die Erschaffung Adams und Evas) mehr gebunden ist - wurden allerdings erst im späten 18. Jahrhundert genutzt.

Die Einführung moderner chronologischer Ordnungskriterien verdankte sich also auch den Innovationen der Zeitrechnung und Zeitmessung, die erst im späten 16. Jahrhundert - nach der Gregorianischen Kalenderreform von 1582 und nach der Erfindung tragbarer Uhren (um 1550 etwa der Nürnberger "Eierlein" - durchgesetzt wurden. Bekanntlich wurde die Konstruktion einer präzisen Uhr - zu Zwecken der Navigation und Längengradbestimmung auf See - überhaupt erst zwischen 1735 und 1761 (durch den Uhrmacher John Harrison) bewältigt, 31 während der gregorianische Kalender keineswegs sofort zu einer "chronologischen Integration" Europas beitrug, sondern einen geradezu "zögerlichen" Siegeszug antrat: nach mehr als hundert Jahren - um 1699/1700 - wurde er in Dänemark und in den protestantischen Teilen Deutschlands und der Niederlande eingeführt, 1752 in England und in den amerikanischen Kolonien, 1812 in der Schweiz, zwischen 1912 und 1917 in Osteuropa, 1918 in Sowjetrußland, und schließlich 1923 in Griechenland. 32 An dieser langsamen Entwicklung muß die ideenhistorische Konstruktion Lovejoys ein wenig relativiert werden; sie übersieht, daß die Berechnungsmethoden und Instrumente eine unverzichtbare Voraussetzung für die Temporalisierung - in Natur, Kunst und Philosophie - bildeten. Solange kein einheitliches Kalendersystem und keine einheitliche Zeitmessung etabliert war, bestand die vordringlichste Aufgabe der Chronologie und Annalistik eben nicht im Entwurf diachroner Entwicklungslinien, sondern in der komparatistischen Synchronisation unterschiedlicher Zeitrechnungen und Jahreszählungen. So demonstriert beispielsweise noch die - sieben Jahre vor Gregors Kalenderreform - in Venedig gedruckte "Emendatio Temporum" des Ioannes Lucidus Samotheus, wie sich die anni mundi in hebräische, assyrische, ägpytische und römische Annalen transponieren lassen; synchronisiert werden die Listen der Olympiaden, der Konsuln und Imperatoren, schließlich der Päpste. Aber die Weltgeschichte beginnt nach wie vor im Jahr 3960 ante Christum mit dem Eintrag: "Adam & Eva sexto seculi die creantur". 33

Die Wissensordnung der Kunst- und Wunderkammern, dieses System einer "Inventarisierung der Welt" (nach Giuseppe Olmi), wurde also erst allmählich aufgelöst und gesprengt. Dieser Auflösungsprozeß vollzog sich bekanntlich im Rahmen der Transformation eines räumlich gedachten Zusammenhangs - in der ars memoriae noch als imaginäre, in den Kunst- und Wunderkammern als reale Architektonik - in einen zeitlichen Zusammenhang: was bisher ins Nebeneinander gestellt worden war, sollte nun im Nacheinander chronologischer Sequenzen und Fortschrittsmodelle interpretiert werden. Zunächst wurde die Natur historisiert. Das Hauptwerk von Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon - die "Histoire naturelle, générale et particulière" - erschien in 44 Bänden zwischen 1749 und 1804 in Paris; darin wurde zwar bereits von den "époques de la nature" gesprochen, freilich noch im Horizont des königlichen Naturalienkabinetts, wie der Untertitel verrät: "avec la description du Cabinet du Roy". Aber die zeitliche Ordnung, die Buffon immerhin den Ruf eines "Vorläufers" der Evolutionstheorie Lamarcks und Darwins eintragen sollte, orientierte sich noch an den älteren chronologischen Modellen; Buffons Zeitbegriff wurde "vom Festhalten an der auf Moses und der Genesis basierenden Zeitrechnung, der traditionellen Chronologie, bestimmt: Die Schöpfung währte sechs Tage und einen, und seit der Entstehung des Menschen seien sechs- bis achttausend Jahre vergangen". 34 Immerhin wurde zugestanden, daß gleichsam die "Proportionen" der Schöpfungsgeschichte "gedehnt" werden könnten, so daß sich auch längere Perioden mit dem biblischen Text in Übereinstimmung bringen ließen; von einer "offenen" Zeit - im Sinne späterer Fortschrittsideale - war noch keine Rede. Erst im 19. Jahrhundert mußten die Zeiten etwa der Erdgeschichte immer tiefer in die Vergangenheit erstreckt werden, während die Zukunft zum unabsehbaren "Projekt" der Menschengattung geriet.

Die neuen chronologischen Ordnungssysteme gründeten sich nicht zuletzt auf geschichtsphilosophische Entwürfe. Den Universalhistorien - von Isaac Iselin bis Herder, von Schillers Antrittsvorlesung in Jena bis zu Hegels Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte - verdankten sich auch museale Aufstellungsordnungen. Und während Christian von Mechel, der 1783 - im Auftrag Josephs II. - die Gemäldegalerie im Wiener Belvedere als eine "erste sichtbare Geschichte der Kunst" 35 inszenieren wollte, noch weitgehend den taxonomischen Ordnungskriterien einer Histoire naturelle verpflichtet blieb, wurde das ehrgeizigste Museum des 19. Jahrhunderts - der Pariser Louvre - bereits nach kulturellen Epochen und Hochkulturen gegliedert, die bis heute maßgebliche Organisationsprinzipien der Sammlungen geblieben sind. Nicht mehr Schulen, sondern kulturelle Zeitspannen bildeten den neuen Maßstab einer "Inventarisierung der Welt" (die freilich im Falle des Louvre auch in Gestalt eines umfangreichen "Kunstraubs" vorangetrieben wurde). Die Durchsetzung chronologischer Ordnungssysteme ermöglichte die Institutionalisierung der Sammlungen und Museen des 19. und 20. Jahrhunderts, - auch und gerade insofern sie ein Erbe der aufklärerischen Geschichtsphilosophie übernahm, das gar nicht mit der Archivierung der Vergangenheit zusammenhing, sondern mit dem Blick in die Zukunft. Dieser besondere Effekt wird gerne übersehen: die Geschichtsphilosophie wirkte stets auch als Fortschrittsprogramm und Menschheitsutopie, kurzum - sie zeichnete sich weniger aus durch ein historistisches als durch ein futuristisches Pathos. Eben dieses Pathos prägte auch die Geschichte von Sammlungen und Museen in der Moderne. Schließlich galt es ja, die Schätze der Vergangenheit den künftigen Generationen zu überliefern. Temporalisierung ist keine Einbahnstraße. Und noch die aktuellste Berufung auf "kulturelles Gedächtnis" partizipiert an diesem Auftrag: die Vergangenheit muß in Form ihrer Manifestationen und Artefakte "gerettet" werden, um die Zukunft zu gestalten. Auch die Präsentation universitärer Sammlungen - um nochmals an das "Theatrum naturae et artis" zu erinnern - bezweckt keine Historisierung, sondern eine mögliche Zukunft der Universität.

Anmerkungen


1 | Vgl. Claude Lévi-Strauss: Mythologica. In vier Bänden. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976.

2 | Vgl. Aby Warburg: Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten. In: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance. Gesammelte Schriften Band I. Neu herausgegeben von Horst Bredekamp und Michael Diers. Berlin: Akademie-Verlag 1998. Seite 487-558; zum Begriff des "Denkraums" vgl. etwa Seite 491.

3 | Vgl. Krzysztof Pomian: Collectionneurs, amateurs et curieux. Paris, Venise: XVIe - XVIIIesiècle. Paris: Éditions Gallimard 1987; Giuseppe Olmi: L'inventario del mondo. Catalogazione della natura e luoghi del sapere nella prima età moderna. Bologna: Società editrice il Mulino 1992; Paula Findlen: Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientific Culture in Early Modern Italy. Berkeley/Los Angeles/ London: University of California Press 1996; Lorraine Daston/Katharine Park: Wonders and the Order of Nature 1150-1750. New York: Zone Books 1998.

4 | Vgl. Lawrence Weschler: Mr. Wilsons Wunderkammer. Von aufgespießten Ameisen, gehörnten Menschen und anderen Wundern der jurassischen Technik. Übersetzt von Ulrich Enderwitz. München/Wien: Carl Hanser 1998.

5 | Boris Groys: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters. München/Wien: Carl Hanser 1997. Seite 45.

6 | Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Übersetzt von Gustav Roßler. Berlin: Klaus Wagenbach 1988. Seite 16.

7 | Vgl. u. a. Donald W. Winnicott: The child, the familiy and the outside world 1964. Reading (Massachusetts): Addison-Wesley 1992; The maturational processes and the facilitating environment. Studies in the theory of emotional development. New York: International University Press 1965; Playing and reality. Harmondsworth: Penguin Books 1974.

8 | Vgl. Julian Jaynes: Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche. Übersetzt von Kurt Neff. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988. Seite 174-180.

9 | C. Plinius Caecilius Secundus: Sämtliche Briefe. Übersetzt und herausgegeben von Heribert Philips und Marion Giebel. Stuttgart: Reclam 1998. Seite 577.

10 | Jacob Burckhardt: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens. Stuttgart: Alfred Kröner 1986. Seite 392.

11 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. Seite 46-77.

12 | Casper Friedrich Neickel (= Kaspar Friedrich Jenequel): Museographia. Leipzig/Breslau 1727. Zitiert nach Adolph Donath: Psychologie des Kunstsammelns. Berlin: Richard Carl Schmidt 1911. Seite 39 f.

13 | Vgl. zu einer solchen Geschichte u. a. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin: Klaus Wagenbach 1993.

14 | Vgl. die nach wie vor eindrucksvolle Studie von Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen 1936. Geschichte eines Gedankens. Übersetzt von Dieter Turck. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993.

15 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. A. a. O. Seite 45.

16 | Vgl. Jorge Luis Borges: Von der Strenge der Wissenschaft. In: Borges und ich. Gesammelte Werke Band VI. Übersetzt von Karl August Horst und Gisbert Haefs. München/Wien: Carl Hanser 1982. Seite 121. Vgl. auch: Die Bibliothek von Babel. In: Erzählungen. Gesammelte Werke Band III.1. Übersetzt von Karl August Horst und Gisbert Haefs. München/Wien: Carl Hanser 1981. Seite 145-154.

17 | Danilo Kis: Enzyklopädie der Toten. Erzählungen. Übersetzt von Ivan Invanji. München/Wien: Carl Hanser 1986. Seite 43-74."), als der unmögliche Wunsch des britischen Büchersammlers Thomas Phillipps, den dieser - drei Jahre vor seinem Tod im Jahr 1872 - in einem Brief an Robert Curzon formulierte: "Ich kaufe gedruckte Bücher, weil ich ein Exemplar von jedem Buch auf der Welt haben möchte!!!" Zitiert nach: Werner Muensterberger: Sammeln. Eine unbändige Leidenschaft. Psychologische Perspektiven. Übersetzt von H. Jochen Bußmann. Berlin: Berlin Verlag 1995. Seite 124.

18 | Vgl. Carl von Linné: Nemesis Divina. Herausgegeben von Wolf Lepenies und Lars Gustafsson. Übersetzt von Ruprecht Volz. München/Wien: Carl Hanser 1981.

19 | Vgl. etwa die aufschlußreichen Studien von Sarah Jansen zur Transformation taxonomischer Systeme der Biologie in die ökologisch-populationswissenschaftliche Forschung in Sarah Jansen: Schädlinge. Geschichte eines wissenschaftlichen und politischen Konstrukts, 1840-1920. Frankfurt/Main/New York: Campus-Verlag 2000.

20 | Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. A. a. O. Seite 293 f.

21 | Vgl. Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte 1949. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. Übersetzt von Günther Spaltmann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986.

22 | Vgl. Hannes E. Schlag: Ein Tag zuviel. Aus der Geschichte des Kalenders. Würzburg: Königshausen + Neumann 1998. Seite 16 f.; sowie Heinz Zemanek: Kalender und Chronologie. Bekanntes und Unbekanntes aus der Kalenderwissenschaft. München/Wien: Oldenbourg 1981. Seite 105.

23 | Anthony Aveni: Dialog mit den Sternen. Übersetzt von Hans Günter Holl. Stuttgart: Klett-Cotta 1995. Seite 53.

24 | Vgl. Alexander Marshack: The Roots of Civilization. The Cognitive Beginnings of Man's First Art, Symbol and Notation. London: Weidenfeld and Nicolson 1972.

25 | Vgl. Giorgio de Santillana/Hertha von Dechend: Die Mühle des Hamlet. Ein Essay über Mythos und das Gerüst der Zeit. Übersetzt von Beate Ziegs. Wien/New York: Springer-Verlag 21994.

26 | Vgl. Hans Maier: Die christliche Zeitrechnung. Freiburg/Brsg./Basel/Wien: Herder 1991. Seite 35.

27 | Vgl. Beda der Ehrwürdige: Kirchengeschichte des englischen Volkes. Übersetzt und herausgegeben von Günter Spitzbart. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997. Seite 32.

28 | Hans Maier: Die christliche Zeitrechnung. A. a. O. Seite 38.

29 | Vgl. Brian Rotman: Signifying Nothing. The Semiotics of Zero. Stanford (California): Stanford University Press 1987.

30 | John D. Barrow: Ein Himmel voller Zahlen. Auf den Spuren mathematischer Wahrheit. Übersetzt von Anita Ehlers. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999. Seite 145.

31 | Vgl. Dava Sobel: Längengrad. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste. Übersetzt von Matthias Fienbork. Berlin: Berlin Verlag 1996.

32 | Vgl. Margo Westrheim: Kalender der Welt. Eine Reise durch Zeiten und Kulturen. Übersetzt von Bernardin Schellenberger. Freiburg/Brsg./Basel/Wien: Herder 1999. Seite 104.

33 | Ioannes Lucidus Samotheus: Chronicon seu Emendatio Temporum. Ab urbe condito usque ad annum Christi MDXXXV. Cum additionibus R.P.D. Hieronymi Bardi Florentini Camaldulensis. Venedig: Juntas 1575. Seite 80.

34 | Debora J. Meijers: Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780. Übersetzt von Rosi Wiegmann. Wien: Kunsthistorisches Museum/Skira editore 1995. Seite 131.

35 | Vgl. Ebda. Seite 138 ff.