Dr. Thomas Macho (Univ.-Prof. i.R.)
Direktor des IFK
Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften |
Kunstuniversität Linz in Wien
Email: office@thomasmacho.de

 Deus ex Machina.

 Bemerkungen zur Technikgeschichte der Religion

Wenn Sie auf diesen Text verweisen möchten:
Neue Rundschau. 115. Jahrgang. Heft 1, Frankfurt/Main (S. Fischer) 2004, 25-39.

von Thomas Macho



Religionen werden gefestigt und überliefert durch Rituale und Texte, die heilig sind, solange sie für wiederholbar und unveränderlich gehalten werden. Sie sind heilig in ihrer Zeitlosigkeit; und sie können – in zeremoniellen Praktiken und Lektüren – nur wiederholt werden, solange glaubhaft bleibt, daß sie nicht redigiert, angepaßt oder dem historischen Wandel unterworfen wurden. Die wissenschaftliche Erforschung der Kanonisierungs- und Redaktionsgeschichte der Bibel war ebenso Anlaß wie Ergebnis von Säkularisierungsprozessen im 19. Jahrhundert; umgekehrt bewirkte ein Roman über apokryphe Koranverse noch im Jahr 1989 die Ausrufung der »Fatwa«, des islamischen Todesurteils. Die Zeitlosigkeit der heiligen Rituale und Texte muß kontrafaktisch um so radikaler und kompromißloser behauptet werden, als sie wesentlich aus einmaligen Ereignissen abgeleitet wird – aus unwiederholbaren, seltenen, flüchtigen Momenten der Offenbarung, der Berufung, der Evidenz. Die Stimme aus dem brennenden Dornbusch ist verklungen; sie wird ebensowenig wiederkehren wie der Lichtblitz vor Damaskus, die Erscheinung eines Engels oder die Erleuchtung. Das Heilige ist demnach von Anfang an doppelgesichtig: heilige Rituale und Texte, bei denen es auf die exakte Repetition jeder Kniebeuge und jedes Buchstaben ankommt, bezeugen die heiligen Augenblicke einer kontingenten Erfahrung, einer unwiederholbaren Offenbarung.1

Der Widerspruch ist evident; weniger evident sind die Strategien seiner Auflösung. Wenn Religion – nach Maßgabe der Definition in einer weit verbreiteten Enzyklopädie – »als erlebnishafte Begegnung mit heiliger Wirklichkeit und als antwortendes Handeln des vom Heiligen existentiell bestimmten Menschen« 2 verstanden werden soll, muß irgendwie sichergestellt werden, daß diese »Begegnung« nicht nur als historisch ferner Gegenstand von Ritualen und Texten oder als persönliche, kontingente und darum institutionell unverfügbare Erfahrung – etwa wie die »Feuernacht« am 23. November 1654 – auftreten kann. Genau an dieser prekären Stelle müssen also effiziente Unterstützungen geboten werden; als »Prothesen« einer Offenbarung fungieren Techniken. Seit der Antike tragen sie – als Medien- und Bühnentechniken – wesentlich bei zur Inszenierung von Ritualen und Texten als aktuellen »Begegnungen mit heiliger Wirklichkeit«. Sie verleihen dem Wiederholten die Aura des Einmaligen, des Unwiederholbaren. Am Pfingsttag des Jahres 1379 wurde etwa in Vicenza der Gesang der Gläubigen durch eine kunstvoll präparierte Taube illuminiert, die – als funkensprühende »Rakete« – an einer Schnur vom Turm des bischöflichen Palastes bis in die Kirche flog. Die Gemeinde warf sich, wie ein Chronist bezeugt, »erschüttert von dem Wunder« zu Boden und sprach »in fremden Zungen«. 3 Explodierende Tauben waren fortan sehr beliebt als »Medien« zur Aktualisierung des eigentlichen Mediums, des »sanctus spiritus«, Taube und Feuerzunge zugleich. Noch 1644 wurde die Inauguration des Papstes Innozenz X. auf solche Weise gefeiert: »Im Brunnen gegenüber dem Palazzo Pamphilj, dem Stammhaus des jüngst gekrönten Innozenz X., war ein gewaltiger Hügel aufgetürmt; auf seiner Spitze thronte ein Schiff, in dessen Fenstern man Tiere und Menschen erspähte – darunter die Statue eines Mannes, der seine Arme zum Palazzo hin ausgebreitet hatte wie zum Willkomm . . . Da sprang auf einmal ein Fenster des Palastes auf, heraus schoß flügelschlagend eine Taube, die in dem Augenblick, da sie sich auf der Barke niederließ, in Funken barst – und alles ging in Feuerwerk und Flammen auf, die sich im Brunnenwasser spiegelten, um in ihm zu versiegen. 4

1379 war das Schießpulver, mit dessen Hilfe die Wundertauben konstruiert werden konnten, noch ziemlich jung. Die ersten Explosivstoffe wurden in China – vermutlich im neunten Jahrhundert – gemischt, weshalb Salpeter bei den Arabern als »Schnee von China« und bei den Persern als »chinesisches Salz« bekannt war. Wenig später wurden die ersten »Raketen« konstruiert. In Europa setzte sich das Schießpulver um 1300 durch: als sein Erfinder galt Berthold Schwarz, gelegentlich auch Roger Bacon. 1334 kamen die ersten Geschütze zum Einsatz (bei der Verteidigung von Meersburg, dem Sitz der Konstanzer Bischöfe); Petrarca erwähnte 1344 die Verwendung von Geschossen, die ihren Antrieb dem Schießpulver verdankten. Erst im späten Mittelalter entwickelten sich also jene neuen Techniken, die nicht nur zum Krieg, sondern auch zur Inszenierung sakraler Überwältigungseffekte genutzt werden konnten. Das Schießpulver wurde dabei freilich nur eingegliedert in ein reichhaltiges Ensemble von Techniken, die bereits seit Jahrhunderten bekannt waren: Techniken der Optik (Spiegelung), der Akustik, der Hydraulik, Techniken der Faszination durch Spiele, Bilder, Figuren, Gesänge oder Gerüche. – Apropos Gerüche: Erst vor wenigen Jahrzehnten wurde entdeckt, daß Olibanum – das goldgelbe Harz der Boswellia-Sträucher aus Südarabien und Indien, der sogenannte Weihrauch – stimulierende, mild halluzinogene Wirkungen ausüben kann.

Deus ex Machina, der Gott aus der Maschine. Ursprünglich wurde der Begriff geprägt, um eine bestimmte Szene im griechischen Theater zu bezeichnen: die Lösung eines Konflikts oder Problems, die sich nicht aus der Handlung des Dramas, aus seiner Narration, ergibt, sondern durch den unvermuteten Eingriff einer Gottheit. Ein berühmtes Beispiel kennen wir aus »Iphigenie in Tauris« von Euripides: Athene erscheint im letzten Augenblick über dem Tempel, um Iphigenie und Orest vor dem Zorn des taurischen Königs Thoas zu retten; sie fällt ein gerechtes Urteil, dem sich alle Protagonisten unterwerfen. Tatsächlich wurde der Deus ex Machina häufig mit einer Theatermaschine, einer Art von Kran, auf die Bühne herabgesenkt. Kräne mit Flaschenzügen waren seit 750 v.Chr. bekannt, und zwar als mit Seilen verspannte Einbaumkräne, die über drei (»Trispastos«) oder fünf Rollen (»Pentespastos«) liefen; um 225 v.Chr. soll Archimedes sogar einen Kran mit Vielrollenzug (»Polyspastos«) konstruiert haben. Die Kräne wurden verwendet beim Bau, in den Häfen und Steinbrüchen; sie mußten immerhin – etwa bei der Errichtung des Parthenon in Athen – Gewichte von neun Tonnen mehr als zehn Meter hoch stemmen. 5 Im Theater kamen dagegen Schwenkkräne zum Einsatz. Mit ihrer Hilfe konnte die eingreifende Gottheit von außen auf die Bühne gehievt werden.

Artefakte von antiken Kränen wurden kaum gefunden; überliefert wurden indes – neben den Bauwerken, die nur durch Einsatz von Kränen errichtet werden konnten – Beschreibungen und Konstruktionszeichnungen. Zu den wichtigsten Autoren solcher Texte und Skizzen gehört der »mechanikos« Heron aus Alexandria, der wohl – die Daten sind nach wie vor umstritten – irgendwann zwischen dem zweiten vorchristlichen und dem ersten nachchristlichen Jahrhundert lebte. Herons Werke enthalten zahlreiche Informationen über Mathematik, Physik und Mechanik, vor allem aber konkrete Hinweise über Geräte und Apparate, deren Konstruktion und Bedienung. Manche Darstellungen Herons betreffen Kultobjekte, Tempel oder Altäre: Zauber- und Theatermaschinen zugleich. Er konstruierte beispielsweise (auf hydraulischer Basis) einen Tempel, dessen Türen sich automatisch öffnen, wenn und solange das Opferfeuer brennt; sobald das Feuer erlischt, schließen sich die Tempeltüren wie von selbst. Er baute Altäre mit tanzenden Figuren, Springbrunnen, die – als »Heronsbrunnen« – nach ihm benannt wurden, künstliche Singvögel auf Bäumen, selbstklingende Trompeten, Wasserorgeln, katoptrische Spiegel, Zauberkrüge und -gefäße, ja sogar vielteilige Figurengruppen mit Göttern, Heroen oder Tieren, die hydraulisch in Bewegung gesetzt werden konnten. Zumindest theoretisch war ihm das Prinzip der Dampfmaschine klar, auch wenn die technischen Voraussetzungen für deren Herstellung – die Mittel zur Erzeugung höherer Temperaturen und eines stärkeren Dampfdrucks – noch fehlten. Nahezu komisch wirkt Herons »Weihwasserautomat«: in einen Opferstock sollte ein Mechanismus integriert werden, der nach Einwurf eines Fünfdrachmenstücks eine kleine Menge Weihwasser austreten läßt. 6

Nicht erwähnt werden in Herons Schriften die »sprechenden Köpfe«, die Heron angeblich als Orakelmaschinen – mit Schallrohren für verborgene Priester – konstruiert haben soll, mehr als eintausendfünfhundert Jahre vor den »tètes parlantes« des Abbé Mical in Paris.7 Aufgegriffen wurden diese Vorschläge anläßlich der Bemühungen um eine akustische Restauration der »singenden« Memnonskolosse. Diese berühmten Riesenstatuen in sitzender Haltung waren in der ersten Hälfte des vierzehnten vorchristlichen Jahrhunderts, während der Regierungszeit des Pharaos Amenophis III., aus gewaltigen Blöcken von rötlichem Quarzit gemeißelt worden; sie bewachten seither am Westufer des Nils, nahe von Luxor, den Eingang zum Friedhofsgebiet, dem Tal der Könige. In der Ptolemäerzeit wurde der nördliche Koloß mit Memnon identifiziert, dem legendären König, Sohn der Eos und des Titanos, der im Kampf um Troja gefallen sei. Eben dieser Koloß erhielt im Jahr 27 v. Chr. – nach einem heftigen Erdbeben bei Theben – verschiedene Risse und Sprünge, wodurch er jeden Morgen (etwa wie eine Äolsharfe oder Windorgel) zu »singen« begann. Dieser Gesang des Wächters zum Totenreich wurde rasch populär und zog zahlreiche Pilger an, die das Lied des toten Sohns für seine Mutter, die Göttin der Morgenröte, hören wollten. In bester Absicht ließ Kaiser Septimius Severus die Schäden an der Statue ausbessern, wonach der Morgengesang ausblieb und folgerichtig – schon wegen der ökonomischen Bedeutung der Pilgerwallfahrten – überlegt werden mußte, wie auch eine restaurierte Statue wieder zum Singen gebracht werden konnte.

Keine Religionsgeschichte erzählt indes von Herons technischen Künsten, im Unterschied zu verschiedenen Historien der Bühnenmagie.8 Dabei ist evident, daß die Differenz zwischen sakraler und theatralischer Magie erst in der Moderne – womöglich lange nach den hitzigen Diskussionen um Mesmers oder Cagliostros Wirken – getroffen wurde; auf ähnliche Weise hat sich ja die Astrologie spät und langsam von der Astronomie getrennt – oder die Alchemie von der Chemie. Aber während es leicht zu fallen scheint, die Astrologie oder Alchemie in eine Wissensgeschichte von mehreren Jahrtausenden einzuordnen, wirkt der Entwurf einer technischen Geschichte der Religionen, die Untersuchung der engen Verwandtschaft zwischen Bühnenzauber und heiligen Ritualen, nach wie vor prekär: als würden durch solche Perspektiven nicht nur die Religionen diskreditiert, sondern auch die Wissenschaften selbst, die scheinbar beschuldigt werden, Beihilfe zum »Priesterbetrug« geleistet zu haben.9 Dabei wird übersehen, daß die polemische Rede vom »Priesterbetrug« ihrerseits zu einem Diskurs der frühen Moderne gehört, dessen Legitimität inzwischen erfolgreich in Frage gestellt wird; zu Recht hat Wittgenstein schon 1931 gegen Frazers Golden Bough eingewendet, die performativen Elemente der Magie und Religion sollten nicht nach den Kriterien einer Wahrheitstafel beurteilt werden: »Frazers Darstellung der magischen und religiösen Anschauungen der Menschen ist unbefriedigend: sie läßt sie als Irrtümer erscheinen.«10

Irrtum, Täuschung, Betrug: diese Kategorien setzen voraus, daß eine Unterscheidung nicht getroffen werden kann – die Unterscheidung zwischen wahr und falsch, zwischen Wirklichkeit und Inszenierung, zwischen einer Offenbarung (wie sie sich am Berg Sinai ereignet haben soll) und einer Offenbarung auf der Theaterbühne oder in einem hellenistischen Tempel. Aber schon die Ureinwohner Australiens – beliebtes Forschungsobjekt der frühen Ethnologie – wußten, wie sie die Stimmen der Geister mit ihren Schwirrhölzern, den churingas, erzeugen konnten, ohne darum an der spirituellen Bedeutsamkeit dieser Manifestationen zweifeln zu müssen. Bei seiner Teilnahme an der heiligsten Zeremonie der Cheyenne-Indianer – dem Sonnentanz – erfuhr auch Hans Peter Duerr, daß es möglich ist, von rituellen Inszenierungen zu wissen (und sich dabei zu amüsieren), ohne sie fundamental in Frage zu stellen. In seinem Tagebuch von 1981 notierte Duerr am Freitag, dem 12. Juni: »Zweiter Abend des Sonnentanzes. Renate Schukies aus Hamburg, die eine Biographie des Arrow Keepers als Doktorarbeit schreibt, und ich sitzen dicht vor der Sun Dance Lodge. Es ist sehr stürmisch. Der Sun Dance Priest bringt gebückt das Heilige Feuer in den Kreis. Die Funken stieben, und brennende Zweige fliegen weg. Ein anderer Priester ruft ihm zu: ›Verbrenn dir nicht die Eier, alter Mann!‹ Der Sun Dance Priest und einige andere Indianer lachen. Ich frage Renate: ›Kannst du dir vorstellen, daß der Meßdiener während der Messe zum Priester sagt: 'Laß dir nicht die Bibel auf den Schwanz fallen'?‹ Renate kann es nicht.« 11 Daß dieser Satz unvorstellbar erscheint, ist zwar verständlich, ließe sich aber leicht historisch korrigieren – etwa durch Erinnerung an die mittelalterlichen Esels- und Narrenfeste in der Kirche, bei denen es mindestens so deftig herging wie beim Sonnentanz der Cheyenne in Oklahoma.12

Ebensowenig wie ein grober Witz von vornherein die Heiligkeit von Kultorten oder Ritualen aufheben muß, tritt die Technik der bühnenmagischen Produktion von Wundern stets in Widerspruch zur Religion, wie die Kritik am »Priesterbetrug« suggeriert. Dabei wurde auch im Altertum ein Zauberer gelegentlich als »Scharlatan« enttarnt, zumindest sofern er der »fahrenden Zunft« der Gaukler und Spieler angehörte. Im spätantiken Rom wurde beispielsweise die Wahrsagerei verboten, was die Kaiser nicht daran hinderte, auch weiterhin ihre Hof-Astrologen zu konsultieren; 13 doch selbst der berühmte Apollonios von Tyana wurde vor das kaiserliche Gericht Domitians zitiert. Zeitweise entbrannte in Rom ein regelrechter Wettstreit zwischen den Wundertätern um die Anerkennung ihrer magischen Fähigkeiten. Von einem solchen Wettstreit berichtet auch die Apostelgeschichte. Bei der Mission in Samarien stießen Philippus, Petrus und Johannes auf den Magier Simon, der ihnen Geld anbot, um auch die Kraft zu erhalten, durch Auflegung der Hände den Heiligen Geist zu verleihen. Natürlich lehnte Petrus ab.14 Nach anderen Quellen (insbesondere den apokryphen Petrusakten) ging Simon Magus anschließend nach Rom und beeindruckte das Volk (und vor allem den Senator Marcellus) durch seine Schauflüge über den Stadttoren. Später kam es dann zu verschiedenen Konfrontationen zwischen Simon Magus und Simon Petrus. Um die Konkurrenten zu prüfen, befahl etwa der römische Präfekt Agrippa die magische Tötung eines Knaben (durch Simon Magus) und danach seine Auferweckung vom Tode (durch Petrus), eine Art von Test übrigens, den beide Kandidaten bestanden (freilich ohne damit die Frage des Präfekten zu beantworten, wer Gott »wohlgefälliger« sei – »der tötet oder der lebendig macht«). Der Wettstreit war erst zu Ende, als Simon neuerlich eine Levitation veranstaltete und dabei Petrus herausforderte. Buchstäblich nach einem Stoßgebet des Petrus – »Wenn du diesen tun läßt, was er unternommen hat, so werden jetzt alle, die an dich gläubig geworden sind, angefochten werden, und es werden die Zeichen und Wunder, die du ihnen durch mich gegeben hast, unglaubwürdig sein. Erzeige, Herr, schnell deine Gnade und bewirke, daß er entkräftet von oben herabfällt, aber nicht sterbe, sondern unschädlich gemacht werde und den Schenkel an drei Stellen breche« – stürzte der fliegende Zauberer ab und kam wenig später zu Tode.15

Wie Simon geflogen ist, läßt sich den Quellen nicht entnehmen; ebensowenig erfahren wir über Techniken der Tötung (durch ins Ohr geflüsterte Worte) oder der Erweckung vom Tode. Daß freilich schlichte Zauberworte das Leben oder den Tod beenden können, gehörte zu den Grundüberzeugungen der Magie in unterschiedlichen Kulturen, gleichgültig ob sie – wie die jüdisch-christliche Tradition – an die schöpferische Macht der Stimme glaubten oder nicht. Die Wirksamkeit sprachlicher Suggestionen kann nicht umsonst in den meisten Hypnosesitzungen anschaulich studiert werden; sie bildete den – jahrtausendelang verläßlichen – Resonanzboden zahlreicher Ekstasekulte, und zwar vom delphischen Orakel bis zur Zungenrede, mit der sich Paulus im ersten Brief an die Korinther auseinandersetzte, vom Schamanismus bis zum Spiritismus, von den – durch Bruce Chatwin popularisierten – Trancegesängen der australischen Ureinwohner bis zur Glossolalie in den nordamerikanischen Pfingstgemeinden.16 Wer die Technikgeschichte der Religionen analysieren will, darf die akustischen oder musikalischen Strategien der Aktualisierung von Überwältigungserfahrungen nicht unterschätzen, zumal ja die Mehrzahl der Offenbarungsberichte von auditiven Ereignissen (wie der Stimme Gottes oder einer Berufung) erzählt – und nicht von Erscheinungen oder Visionen. So wie kein Text ohne laute oder leise Lektüre vergegenwärtigt werden kann, setzen die meisten Rituale eine spezifische Sphäre der rhythmischen Geräusche, Gesänge und Klänge voraus. Dabei benötigten sie jene Art von Maschinen, mit denen auch Heron experimentiert hatte: Musikinstrumente nämlich, Rasseln, Trommeln, Blas- und Saiteninstrumente, Klanginstallationen – und natürlich die Orgeln.

Mit großem Aufwand wurden in den mittelalterlichen Kathedralen regelrechte Gesamtkunstwerke, etwa zur Feier von Christi Himmelfahrt, inszeniert. Alle Sinne sollten gleichermaßen angesprochen und beeindruckt werden: Augen, Ohren, Nasen und Münder. In der Karmelitenkirche Santa Maria del Carmine von Florenz wurde beispielsweise seit dem Himmelfahrtstag des Jahres 1422 ein grandioses Schauspiel aufgeführt, bei dem auf der linken Seite des Mönchschors die Stadt Jerusalem, auf der rechten Seite der Ölberg aufgebaut wurde. In Begleitung von vier Engeln sowie von zwei Knaben (als Darstellern der Maria und der Maria Magdalena), betrat Jesus zunächst die Stadt, um die Apostel abzuholen. Anschließend schritt die Gruppe zum Ölberg, und jeder Apostel wurde mit einem symbolträchtigen Geschenk verabschiedet – Andreas etwa mit einem Netz, Petrus mit den Schlüsseln. Danach bestieg Jesus – begleitet vom Klagegesang der Apostel – den Ölberg. »Als er die Spitze erreicht, hört man ein Donnern. Die über dieser Szene, im offenen Dachstuhl der Kirche hängende Sphaera öffnet sich und Gottvater erscheint im Glanze vieler Kerzen. Knaben, die Engel darstellen, umkreisen ihn. Größere Engel, auf Scheiben gemalt, drehen sich ebenfalls im Kreise. Von dieser Engelssphaera schwebt eine Wolke ins Kirchenschiff hinab. Auf ihr stehen zwei als Engel gekleidete Knaben mit goldenen Flügeln. ... Daraufhin schwebt Christus mit Hilfe von sieben Seilen aufwärts der Wolke entgegen und segnet zugleich die beiden Marien und die Apostel. Als er die Wolke erreicht, knien die auf ihr stehenden Engel vor ihm nieder. Viele in der Wolke verborgene Lichter werden sichtbar und verbreiten überirdischen Glanz. Christus, nunmehr von Engeln begleitet, fährt weiter himmelwärts. In dem Augenblick aber, da er die Sphaera mit Gottvater erreicht, verstummt plötzlich die Musik und es ertönt ein Donnergrollen. Der Sohn Gottes ist zu Gottvater aufgefahren.« 17 Verantwortlich für die Architektur und die Konstruktion der Theater-Maschinerie war übrigens Filippo Brunelleschi.

Und es war ebenfalls Brunelleschi, der – nach dem Zeugnis Vasaris – die Maschinerie einer Verkündigungsszene in San Felice in Piazza entworfen hatte: für eine Aufführung, die 1497 vom florentinischen Magistrat, unter dem Einfluß Savonarolas, verboten wurde.18 Auf einem Podest stand das Haus der Maria; an der Decke der Kirche hing dagegen das »Paradies« in Gestalt einer sich drehenden Hemisphäre. »Diese Halbkugel, aus Holzlatten über einem Eisengerippe konstruiert, hatte einen Durchmesser von etwa viereinhalb und einen Umfang von knapp vierzehn Metern. Darin standen zwölf Knaben, die, von Kerzen umgeben und mit goldenen Flügeln versehen, als Engel gekleidet waren. Innerhalb dieser Hemisphäre hing ein zweites halbkugelförmiges Eisengerippe mit weiteren acht Engeln. Diese zweite Sphäre konnte, während sich die erste drehte, ein Stück weit hinabgesenkt werden. Von unten ließ sich so der staunenden Gemeinde der Eindruck unterschiedlich hoher Himmelssphären suggerieren. Innerhalb der zweiten Sphäre hing zudem die kupferne Mandorla des Verkündigungsengels. Bei Aussendung Gabriels durch Gottvater drehte sich die erste Engelssphäre. Die zweite senkte sich währenddessen etwas ins Kirchenschiff hinab. Aus ihrer Mitte schwebte schließlich die Mandorla mit dem Himmelsboten aufs Podest mit dem Hause Mariens hernieder. Unten angekommen, überbrachte Gabriel die Frohe Botschaft, bestieg seine Mandorla aufs neue und flog zurück.«19 Die eindrucksvolle Inszenierung der Verkündigung operierte also – auf technisch avanciertem Niveau – mit astronomischen Repräsentationen des Himmels, was einen gewissen Unmut orthodox-puristischer Theologie verstärken mochte.

Himmelfahrten wurden also – mit Hilfe der Ingenieure – in Szenen des Auf- und Abstiegs zu den Sphären unter dem Kirchendach konvertiert; die Auferstehung vom Tode wurde dagegen mit beweglichen Heilanden und fahrbaren Grabschreinen in Szene gesetzt.20 Die Verwendung von Puppen – an Stelle von Schauspielern – gehörte ja seit der Antike zu den theatralischen Elementen mancher Bestattungszeremonie, wie beispielsweise Appians Bericht von der öffentlichen Trauerfeier nach Caesars Ermordung deutlich macht. Damals wurde ein regelrechtes Zauberspiel veranstaltet: »Schon waren sie in dieser Stimmung nahe daran Gewalt zu brauchen, als jemand die Statue Caesars, aus Wachs geformt, über dem Lager emporhielt; denn der Leichnam war auf dem Lager so zurückgelegt, daß man ihn nicht sehen konnte. Die Statue wendete sich durch eine Vorrichtung nach allen Seiten; man sah an ihr die dreiundzwanzig Wunden, die sie ihm in wilder Wut an allen Teilen des Körpers, sogar ins Gesicht beigebracht hatten. Dieser Anblick schien dem Volke so bejammernswürdig, daß sie ihn nicht länger ertrugen; sie seufzten laut auf, umgürteten sich und verbrannten das Rathhaus, worin Caesar ermordet worden war.«21 Im Hoch- und Spätmittelalter tauchten solche Puppen aus Holz oder Wachs – Effigies – wieder auf, nicht ohne die Historiker bis heute mit der Frage zu befassen, ob sich irgendein Zusammenhang zwischen den römischen und den mittelalterlichen Praktiken der Effigies-Verwendung rekonstruieren läßt. Zunächst waren es lebensgroße Porträt-Votivstatuen aus Wachs, die der Kirche SS. Annunziata in Florenz gespendet wurden; erstmals schriftlich dokumentiert wurden sie im Jahre 1260, als Papst Alexander IV. seine Wachsvotivplastik der Kirche stiftete (und mit diesem Akt wohl auch den Servitenorden anerkannte). Schon um 1380 »standen die lebensgroßen Wachsvoti der SS. Annunziata auf Gerüsten (›ballatoi‹) nebeneinander, andere hingen an Stricken von der Decke herab. Es bestand sogar eine Einsturzgefahr für die Kirche, so daß man die Mauern verstärken mußte.«22

Für das frühe 14. Jahrhundert ist in England die Verwendung einer Effigies im königlichen Funeralzeremoniell bezeugt: König Edward II. wurde zunächst – aufgrund erwiesener Regierungsunfähigkeit – zum Rücktritt gezwungen und schließlich am 21. September 1327 (in Berkeley Castle) ermordet. Die Umstände waren heikel, zumal der König nach wie vor als ein »gesalbtes Haupt« galt; er wurde also – nach geltender Regel – vier Wochen lang am Sterbeort verwahrt und einbalsamiert. Eine königliche Leichenfeier wurde für den 20. Dezember vorbereitet; dabei gelangte erstmals – offenbar auch aufgrund des Zustands der Leiche – eine aus Holz gefertigte Effigies zum Einsatz, die über dem fest verschlossenen Sarg aufgestellt wurde. Die späteren Königsbestattungen folgten demselben Muster; nach ihrem Gebrauch wurden die englischen Effigies übrigens in der Westminster-Abbey – »wie Gerümpel in einem Schrank«23 – aufbewahrt. Während die englischen Königs-Effigies aus Holz bzw. Leder gefertigt wurden, verwendeten die Franzosen Stoffe und Wachs. Die erste Effigies wurde nach dem Tode Karls VI. (am 21. Oktober 1422) produziert; ihre Herstellung verdankte sich ähnlich kontingenten Umständen wie im Falle Edwards II.: Karl war in geistiger Umnachtung – und obendrein in den Händen der Engländer – verstorben; die Nachfolge mußte geklärt und umfangreiche Vorbereitungen getroffen werden, so daß die Effigies (aus Leinenstoffen mit einem Weidenholzgerüst) einen nicht mehr verfügbaren Leichnam repräsentieren mußte.

Erst 1643, nach dem Tode Ludwigs XIII., wurde auf die Effigies verzichtet, auch weil die Medizin inzwischen imstande war, halbwegs perfekte Einbalsamierungen vorzunehmen, die eine mehrwöchige Aufbahrung der Leiche gestatteten. Darüber hinaus sollte wohl im absolutistischen Staat jene Trennung zwischen Amt und Person wieder zurückgenommen werden, die Ernst H. Kantorowicz als theologisch-juristisches Fundament der Ritualisierung von Königsbestattungen ausgewiesen hat.24 Die Effigies verlor sukzessiv ihren politisch-sakralen Status, was freilich ihre Verwendung im Umkreis der Funeralzeremonien nicht unbedingt ausschloß. So gelang es zwar dem habsburgischen Aufklärer Joseph II., die traditionellen Bestattungsrituale zu reformieren: unter seiner Regentschaft wurde der wiederverwendbare Klappsarg erfunden; auch für sein eigenes Begräbnis forderte Joseph äußerste Schlichtheit, und bis heute springt »in der Maria-Theresia-Gruft der effektvolle Kontrast seines einfachen Kistensarges zu Füßen des Monumentalstückes seiner Eltern ins Auge«. Dieser Rigorismus konnte allerdings nicht verhindern, daß Joseph Müller-Deym in seinem Wiener Kunstkabinett die Aufbahrung des Kaisers als eine Art von Mausoleum – mit einer Wachseffigies – naturgetreu nachstellte. »Dazu intonierte ein eingebautes Orgelwerk eine von Mozart komponierte Trauermusik.«25

Bemerkungen zu einer Technikgeschichte der Religionen (und ihren vielfältigen Funktionen) lassen sich freilich nicht mit der Beschreibung von Inszenierungen und Maschinen zwischen Athen und Florenz, Heron und Brunelleschi, Caesar und Joseph II. erschöpfen. Sie müssen auch jene Maschinen einschließen und berücksichtigen, die zumal für alle schriftgestützten Religionen unverzichtbar sind – die Medien. Zu Recht erinnert Jan Assmann an den engen Zusammenhang zwischen Religions- und Mediengeschichte: »Schon im 18. Jahrhundert brachte man die monotheistische Religion mit der Erfindung der Alphabetschrift in Verbindung, und die Verbindung zwischen Protestantismus und Buchdruck ist längst ein Gemeinplatz.«26 Die Bedeutung der Medien wurde allerdings nicht nur durch den Übergang von polytheistischen zu monotheistischen Religionen gesteigert, sondern auch durch die Geschichte der Mission. In gewisser Hinsicht ist die Mission eine wesentliche Implikation des Monotheismus: wenn es nur einen einzigen Gott für alle Menschen –ob gläubig oder ungläubig – geben soll, so kann er nicht nur auf ein bestimmtes Volk oder eine bestimmte Kultur bezogen werden. Diese Konsequenz wurde eigentlich schon in der deuteronomistischen Kultreform des Judentums angelegt; spätestens mit dem Römerbrief des »dreizehnten Apostels« avancierte sie zum Programm, zum Motor eines historisch überwältigenden Prozesses, den wir gegenwärtig als »Globalisierung« zu charakterisieren pflegen.

Keine Mission ohne Medien, vielleicht aber auch keine Medien ohne Mission. Die ersten Übersetzerschulen wurden in Spanien eingerichtet, um den Transfer zwischen Islam, Judentum und Christentum zu erleichtern; die ersten Bücher, die gedruckt wurden, waren Bibeln. Missioniert wurde natürlich nicht nur mit Büchern, Gesängen oder Kirchenbauten, sondern auch mit Hilfe optisch-technischer Medien, also mit Hilfe von Spiegeln, der »Camera obscura« oder der »Laterna magica«. Dabei ist das berühmte und viel kommentierte Spiegel-Experiment Brunelleschis im florentinischen Dom häufig – und gewiß zu Recht – in die Geschichte der perspektivischen Malerei eingeordnet worden,27 seltener jedoch in die geschilderten Arrangements ritueller Dramatisierung von Himmelfahrten und Verkündigungen. Welche Möglichkeiten der Inszenierung von Wundern, Visionen und Offenbarungen erschlossen sich gerade durch die Technik der »Camera obscura« und »Laterna magica«! Nicht zufällig war es »diese gespenstische Verwendung der Camera obscura, die in der Folgezeit Karriere machte. Die ersten Überlegungen über ihren Einsatz finden sich folgerecht bei Schriftstellern, die zwar auch wissenschaftlich interessiert, vor allem aber Glaubenskrieger und Katholiken waren.«28 Die neuen optischen Medien wurden exemplarisch genutzt in den Feldzügen der Gegenreformation, während jener barocken Epoche, die nicht nur die Techniken, sondern auch das Wort »Propaganda« generieren sollte. Im Jahr 1622 wurde jedenfalls die kuriale Behörde der »Sancta Congregatio de Propaganda Fide« (durch Papst Gregor XV.) gegründet; sie besteht – bis heute – aus 29 Kardinälen und einem Erzbischof (als Sekretär).

Zu den wichtigsten Theoretikern der missionarisch-propagandistischen Potentiale optischer Medien gehörte der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher. In seiner »Ars magna lucis et umbrae« (deren zweite Auflage im Jahr 1671 erschien) demonstrierte Kircher die Einsatzmöglichkeiten der »Hexenlaterne«, der »Laterna magica«, für Staat und Kirche. Einerseits schlug er vor, das Signal- und Nachrichtenwesen im Krieg mit Hilfe der neuen Technologie zu revolutionieren, andererseits entwarf er eine optische Maschine, die aus einer Drehscheibe und einer optischen Betrachtungseinrichtung bestand. »Auf der drehbaren Scheibe waren lauter kleine Bilder angebracht, die man durch ein Linsensystem dann vergrößert sehen konnte. Nur waren die Bilder bei Kircher nicht irgendwelche wie später beim Lebensrad von 1830, als Tänzerinnen und Aktmodelle sich drehen und bewegen durften, sondern die berühmten und seit Jahrhunderten festgelegten Stationen der Leidensgeschichte von Jesus Christus. Diese Stationen, früher in Kirchen oder auf Passionswegen wie bei St. Ottilien einfach im Nacheinander des Raums und der Zeit gemalt, fingen also bei Kircher an, im Zeitraffertempo abgespult zu werden, und, wenn Sie so wollen, zu laufen. Ölberg, Golgotha usw. als erster Stummfilm der Mediengeschichte ...«29 Wie sich von selbst versteht, inspirierten solche Apparate die katholische Mission nicht nur im Kampf gegen die Reformation, sondern auch bei allen Versuchen, die Bevölkerungen Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas zur christlichen Religion zu bekehren.

Die Mission hat sich also der technischen Medien stets bedient, der Fotografie, des Rundfunks, des Films oder des Fernsehens; und Cecil B. DeMille oder Mel Gibson sind in dieser Hinsicht direkte – wenngleich längst nicht vergleichbar gebildete – Enkel Athanasius Kirchers. Radio- und Fernsehübertragungen des päpstlichen Segens »urbi et orbi« vollziehen geradezu die Logik dieses Segens, indem sie den »Erdkreis« nicht nur symbolisch, sondern übertragungstechnisch einbeziehen. Kein Pilger muß heute mehr nach Rom fahren, um diesen Segen zu erhalten! In meiner Kindheit wurde noch darüber diskutiert, ob es nötig sei, bei der TV-Übertragung des Papstsegens die Knie zu beugen – und ob der Segen auch wirksam bleibe, wenn er nicht live gesendet wird. Solche Fragen erinnern heute allenfalls an scholastische Dispute; sie beharren auf einer Differenz zwischen Präsenz und Repräsentation, die in der Technikgeschichte der Religionen und ihrer Rituale oft genug systematisch relativiert wurde. Botschaft und Medium lassen sich eben nicht unterscheiden, argumentierte der Katholik McLuhan; seine Behauptung gilt auch und gerade für die »frohe Botschaft« der christlichen Religion – und aller anderen Religionen, die mit avancierter Medientechnik missionieren

Vor dem Hintergrund solcher Fragen sollte freilich nicht vergessen werden, daß und weshalb die sakramentale Transsubstantiationslehre (auf dem vierten Laterankonzil von 1215) dogmatisiert wurde. »Hoc est enim corpus meum« – so lautete die bald zum Wort »Hokuspokus« verballhornte Zauberformel, die eine Realpräsenz Christi (unter kirchlicher Aufsicht) garantieren sollte, die von keiner Repräsentation durch Texte, Bilder oder Maschinen mehr unterstützt werden mußte. Wer durch alle technisch-medialen Inszenierungen von Offenbarungen, Himmelfahrten und Auferstehungen, durch die Gesamtkunstwerke geistlicher Spiele, Gesänge, Bilder und Gerüche, durch alle Wunder der »Laterna magica«, der Fotografie, des Films, Fernsehens oder Internets nicht ausreichend überzeugt werden konnte, sollte immer noch an die Gegenwart Gottes in einer weißen Oblate glauben. Wie Geldmünzen waren die Hostien bestens geeignet für eine universelle Verbreitung, auch wenn der Wortzauber neuerlich durch technische Apparate und Hilfsmaßnahmen – Monstranzen, Blutwunder, mystische Mühlen – unterstützt und begleitet werden mußte. Seit Beginn der Reformation nährte das ultimative Medium der geweihten Hostie indes auch den Zweifel: keinen Zweifel an den technischen Medien und Missionen, an Botschaften und Ritualen, sondern einen Zweifel an den Göttern, die sich zur Anwesenheit zwingen lassen.

Gewiß ist die Technik- und Mediengeschichte der Religionen nicht zu Ende. Doch hat sich unser Verhältnis zur technischen Aktualisierung religiöser Offenbarungen spürbar verändert. Seit ihrer Abwanderung auf die Varietébühnen genießt die Zauberkunst das Interesse eines aufgeklärten Publikums, das – durch unbekannte Tricks und Täuschungseffekte – unterhalten werden will; dieses Publikum bezahlt augenzwinkernd für die ästhetische Eleganz eines von vornherein als Betrug durchschauten Spektakels. Geglaubt wird nicht dem Zauberer, sondern seiner Technik; mit ähnlichen Erwartungen besuchen wir Filme wie »The Lord of the Rings«, stets im Bewußtsein, daß die Kreaturen oder Schlachtszenen am Bildschirm errechnet und komponiert wurden. Genauso verhält sich die Mehrheit der westlichen Welt inzwischen zur Religion. Wir wissen Bescheid, im Varieté wie in der Kirche, im Kino wie in der Messe, im Internet wie im Yogatraining. Gerade darum hat sich die Wahrnehmung des Heiligen von den religiösen Inhalten verabschiedet, um sich verstärkt den technischen Formen ihrer Erzeugung zuzuwenden. Je sichtbarer wir im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit religiöser Erfahrungen leben, desto religiöser erfahren wir die Technik. Nach wie vor treten Götter aus den Maschinen hervor; aber nicht die Götter erregen unsere Aufmerksamkeit, sondern die Maschinen: nicht der »Deus ex Machina«, sondern der »Deus in Machina«, die Gottesmaschine, die das Erscheinen von Göttern regelt. Die Technik- und Mediengeschichte der Religionen ist nicht zu Ende; aber sie hat inzwischen das Subjekt gewechselt – und fesselt uns neuerdings in Gestalt einer Religionsgeschichte der Technik und der Medien.30


Anmerkungen


1 | Nur die Bilder sind flexibler. So werden etwa auf mittelalterlichen Bildern die Gesetzestafeln vom Sinai in Papyrusrollen oder Wachstafeln konvertiert. Vgl. dazu Horst Wenzel: Die Schrift und das Heilige. In: Horst Wenzel/Wilfried Seipel/Gotthart Wunberg (Hrsg.): Die Verschriftlichung der Welt. Bild, Text und Zahl in der Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Wien/Milano: Kunsthistorisches Museum/Skira 2000. S. 15-57; hier: S. 17-19.

2 | Gustav Mensching: Artikel »Religion« I. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Herausgegeben von Kurt Galling. Band V. Tübingen: J.C.B. Mohr/Paul Siebeck 31986. Sp. 961.

3 | Vgl. Alice Villon-Lechner: Sprühende Tauben und flammende Bauten. Das römische Feuerwerk als Friedensfest und Glaubenspropagandatheater. In: Georg Kohler/Alice Villon-Lechner (Hrsg.): Die schöne Kunst der Verschwendung. Fest und Feuerwerk in der europäischen Geschichte. Zürich/München: Artemis 1988. S. 20.

4 | Ebd. S. 17.

5 | Vgl. John Gray Landels: Die Technik in der antiken Welt. Übersetzt von Kurt Mauel. München: C.H. Beck 1979. S. 101-117

6 | Vgl. Heron von Alexandria: Druckwerke und Automatentheater. Übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Schmidt. Leipzig: B.G. Teubner 1899. S. 111-113.

7 | Vgl. Thomas L. Hankins/Robert J. Silverman: Instruments and the Imagination. Princeton/N.J.: Princeton University Press 1995. S. 186-188.

8 | Vgl. etwa Carl Graf von Klinckowstroem: Die Zauberkunst. München: Heimeran 1954. S. 10

9 | Vgl. Benjamin Farrington: Greek Science: Its Meaning for us. Harmondsworth: Penguin 1953. S. 199 f.

10 | Hans Peter Duerr: Fragmente eines Tagebuchs (1981). In: Satyricon. Essays und Interviews. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. S. 79-96; hier: S. 81.

11 | Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers Golden Bough. In: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Herausgegeben und übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. S. 29-46; hier: S. 29, vgl. Kapitel 1. S. 9.

12 | Vgl. Jacques Heers: Vom Mummenschanz zum Machttheater. Europäische Festkultur im Mittelalter. Übersetzt von Grete Osterwald. Frankfurt/Main: S. Fischer 1986

13 | Vgl. Marie Theres Fögen: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993

14 | Apostelgeschichte 8,9-25. Zitiert nach: Neue Jerusalemer Bibel. Herausgegeben von Alfons Deissler und Anton Vögtle. Freiburg/Brsg.: Herder 1985. S. 1569.

15 | Petrusakten. In: Neuzeitliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Herausgegeben von Wilhelm Schneemelcher. Band II. Tübingen: J.C.B. Mohr/Paul Siebeck 1989. S. 261, 268 f., 278-283, 284 f.; Zitate: S. 279 und 285.

16 | Vgl. Thomas Macho: Glossolalie in der Theologie. In: Friedrich Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin: Akademie-Verlag 2002. S. 3-17.

17 | Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung in der Hoch- und Spätgotik. Berlin: Gebrüder Mann 2000. S. 128.Für den Hinweis auf dieses materialreiche Werk danke ich Horst Wenzel.

18 | Vgl. Götz Pochat: Theater und Bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien. Graz: Akademische Verlagsanstalt 1990. S. 95.

19 | Johannes Tripps: Das handelnde Bildwerk in der Gotik. A.a.O. (Anm. 18). S. 90.

20 | Vgl. Ebd. S. 129-141.

21 | Appian: De bello civili II, 147. Zitiert nach Julius von Schlosser: Tote Blicke 1910-11. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch. Herausgegeben von Thomas Medicus. Berlin: Akademie Verlag 1993. S. 21 f.

22 | Susann Waldmann: Die lebensgroße Wachsfigur. Eine Studie zu Funktion und Bedeutung der keroplastischen Porträtfigur vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert. München: tuduv-Verlag 1990. S. 23.

23 | Wolfgang Brückner: Bildnis und Brauch. Studien zur Bildfunktion der Effigies. Berlin: Erich Schmidt 1966. S. 79.

24 | Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs 1957.. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Übersetzt von Walter Theimer. München: dtv 1990. Vgl. auch Ralph Giesey: The Royal Funerary Ceremony in Renaissance France. Travaux d'Humanisme et Renaissance 37. Genf: Librairie Droz 1960.

25 | Wolfgang Brückner: Bildnis und Brauch. A.a.O. (Anm. 24). S. 47.

26 | Jan Assmann: Text und Ritus. Die Bedeutung der Medien für die Religionsgeschichte. In: Horst Wenzel/Wilfried Seipel/Gotthart Wunberg (Hrsg.): Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche. Wien/Milano: Kunsthistorisches Museum/Skira 2001. S. 97-106; hier: S. 97. Luther empfand den Buchdruck als »summum et postremum donum Dei, durch welche Gott die Sache des Evangeliums treibet«. Zitiert nach: Horst Wenzel: Luthers Briefe im Medienwechsel von der Manuskriptkultur zum Buchdruck. In: Horst Wenzel/Wilfried Seipel/Gotthart Wunberg (Hrsg.): Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Zur Kulturgeschichte der medialen Umbrüche. Wien/Milano: Kunsthistorisches Museum/Skira 2001. S. 185-201; hier: S. 186.

27 | Vgl. Samuel Y. Edgerton: Die Entdeckung der Perspektive. Übersetzt von Heinz Jatho. München: Wilhelm Fink 2002. S. 129-137.

28 | Vgl. Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999. Berlin: Merve 2002. S. 87.

29 | Ebd. S. 90.

30 | Vgl. Erich Hörl: Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation. Zürich/Berlin: Diaphanes 2004.